Für viele Firmen steht die Leistungsbeurteilung im Mittelpunkt der Personalentwicklung. Auf sie baut ein Großteil des Mitarbeitergesprächs auf. Auch darüber hinaus hat die Leistungsbeurteilung große Bedeutung. In vielen Fällen bestimmt sie, wie Mitarbeiter im Unternehmen wahrgenommen werden. Für manche Karriere ist sie der erste Baustein.
Aus diesem Grund muss jeden Personaler die folgende Frage beunruhigen: Was, wenn die Leistungsbeurteilung keine korrekten Ergebnisse liefert? Wie verlässlich ist die Personalentwicklung, wenn bereits in der Leistungsbeurteilung manche Mitarbeiter zu gut und andere zu schlecht bewertet werden?
Stellen Sie sich vor, dass ein im durchschnittlicher Mitarbeiter eine überdurchschnittliche Bewertung. Auf Basis dieser Bewertung könnte er sechs Monate später zur Führungskraft werden, obwohl es in der Abteilung stärkere Mitarbeiter gegeben hat? In so einem Fall wären die Konflikte vorprogrammiert..
Mittlerweile verzichten viele Firmen auf die Durchführung einer Leistungsbeurteilung, weil sie ihren Ergebnissen nicht genug Vertrauen entgegenbringen. Ist diese Reaktion gerechtfertigt? Sollte man sich diesen Firmen anschließen? Oder sollte die Leistungsbeurteilung in ganz andere Bahnen gelenkt werden?
Beurteilungen hängen mindestens so stark vom Beurteilenden selbst ab wie vom Beurteilten. Wer persönlich an Beurteilungsrunden teilgenommen hat, kennt auf jeden Fall die extremen Formen dieses Effekts. Stellen Sie sich vor, dass es in einer Abteilung nur „Outperformer“ gibt. Dann kann es sein, dass diese Mitarbeiter deutlich besser sind als der Durschnitt aus den anderen Abteilungen. Wahrscheinlicher ist aber, dass sie nicht besser oder schlechter als die anderen sind, aber sie werden völlig anders bewertet. Es gibt eine Reihe von Gründen, warum ich eher von der unterschiedlichen Bewertung ausgehe. Wie kommt es zu solchen unterschiedlichen Bewertungen? Der erste Übeltäter an dieser Stelle besteht meistens im Fehlen gemeinsamer Maßstäbe der unterschiedlichen Führungskräfte. Meist müssen hier die Führungskräfte mit Formulierungen wie „übertrifft im allgemeinen die Erwartungen“ umgehen. Dies ist in zweifacher Hinsicht schwierig. Erstens bedeutet das Übertreffen der Erwartungen im Rechnungswesen sicher etwas anderes als in der Logistik. Noch schwerer wiegt, dass sich grundsätzlich auch die Erwartungen unterscheiden. Die eine Führungskraft erwartet extrem viel, deshalb übertrifft kaum jemand die Erwartungen. Die andere Führungskraft sieht dies als Teil einer Motivierungsstrategie. Sie möchte durch positive Beurteilungen positive Leistungen bestärken. Beides hat seine eigene Logik. Wenn es aber gleichzeitig in einem Unternehmen vorkommt, sind die Bewertungen nicht vergleichbar.
Der zweite Grund für die Skepsis gegenüber Beurteilungen liegt in der Persönlichkeit des Urteilenden. Wie alle Menschen unterliegen auch Beurteilende immer wieder Beurteilungsfehlern. Der Halo-Effekt kann nicht nur Rekrutierungsentscheidungen und Assessment Center beeinflussen, er kann sich auch massiv auf Beurteilungen auswirken. Es besteht die Gefahr, dass einem Mitarbeiter mit einer herausragenden Eigenschaft auch andere, sehr gute Eigenschaften zugeschrieben werden, die er in dem Maß nicht besitzt. So kann es schnell geschehen, dass ein sehr gut präsentierender Mitarbeiter auch als sehr guter Organisator gesehen wird. Wenn mir dieser Effekt bekannt ist, kann ich dem dann entgegenwirken? Vielleicht. Natürlich besteht die Chance in solchen Fällen bewusst bei der Bewertung genauer hinzusehen. Aber dies ist nur einer von mehreren möglichen Effekten, durch die eine Bewertung verzerrt werden kann.
Als ein weiterer Effekt mit Auswirkungen auf Beurteilungen muss der Bestätigungsfehler („confirmation bias“) gesehen werden. „Bestätigungsfehler“ bedeutet, dass Menschen in der Regel nicht akribisch Fakten zusammensammeln und nach Abschluss der Sammlung alles bewerten und zu einer Meinung kommen. In der Regel stehen die grundsätzlichen Bewertungen bereits zu Beginn eines Beurteilungsprozesses. Im weiteren Verlauf der Beurteilung wird dann meist nach Fakten gesucht, die diese Bewertung bestätigen. Der Effekt des Bestätigungsfehlers kann zum Beispiel dann fatal sein, wenn ein Mitarbeiter im Laufe eines Jahres seine Leistung verändert hat, die Führungskraft aber vorwiegend die Fakten sammelt, die seine bestehende Meinung bestätigen. In die gleiche Richtung wirkt sich das Konsistenzprinzip aus. Menschen neigen sehr stark dazu, sich konsistent zu früheren Äußerungen zu verhalten, vor allem, wenn diese schriftlich erfolgt sind. Auf eine andere blinde Stelle verweist das von Daniel Kahneman formulierte WYSIATI-Prinzip („What you see is all there is“): Für unser Gehirn haben alle vorliegenden Informationen eine extrem hohe Priorität, während nicht vorliegende Informationen schlichtweg nicht existieren. Statt auf solche Lücken hinzuweisen, konstruiert unser Gehirn in Millisekunden aus den vorliegenden Informationen eine schlüssige Erklärung. Ist jemand als intelligent bekannt, wird die Frage, ob er eine gute Führungskraft sein wird, oft schnell mit „ja“ beantwortet, obwohl zu einer guten Führungskraft viel mehr gehört als Intelligenz. Die Liste dieser die Wahrnehmungen verzerrenden Effekte ließe sich fortsetzen.
Diese Darstellung von Beurteilungsfehlern müsste für jeden Personalverantwortlichen beunruhigend sein. Trotzdem spielen Beurteilungsfehler jeglicher Art in Vorbereitung auf die Leistungsbeurteilung meistens keine Rolle. Es wird weder auf diese hingewiesen noch werden Schulungen angeboten, in denen die einzelnen Fehler vertieft besprochen werden. Zum Vergleich: Wenn ein Assessment Center durchgeführt wird, gehört eine Schulung zu den Beurteilungsfehlern fest ins Programm. In Bezug auf Rekrutierungsentscheidungen wird die Auswirkung Wahrnehmungsverzerrungen zumindest immer wieder diskutiert. So kann man nachweisen, dass Kandidaten mit ansprechenderem Äußeren eine höhere Einstellchance haben. Manche Firmen haben darauf reagiert und bestehen auf Lebensläufen ohne Fotos.
Die Gefahr ist dabei natürlich nicht, dass eine falsche Beurteilung aus einem Mitarbeiter mit einem echten Problem in der Leistung der Star des Teams wird. Es ist unwahrscheinlich, dass es ein extrem guter Mitarbeiter als extrem schlecht eingestuft wird und umgekehrt. Aber alleine die Vorstellung, dass bestimmte Talente der Mitarbeiter nicht gesehen werden, Mitarbeiter aufgrund von begrenzten herausragenden Fähigkeiten als generell herausragend eingestuft werden und auf dieser Basis dann Weiterbildung oder Beförderungsentscheidungen getroffen werden, ist genug um die bestehende Leistungsbeurteilung grundsätzlich infrage zu stellen.
Wie schwer wiegen Beurteilungsfehler in der Leistungsbeurteilung? Leider kann man nicht die „tatsächliche Leistung“ eines Mitarbeiters messen und dann die Beurteilung seiner Führungskraft dagegen spiegeln. Eine direkte Beurteilung der Auswirkung von Beurteilungsfehlern auf die Leistungsbewertung wäre mit einem extremen Aufwand verbunden. (Hinzu kommt, dass auch bei einer gerechten Beurteilung das Selbstbild des Mitarbeiters maßgeblich dafür ist, ob er diese Beurteilung als gerecht oder als ungerecht empfindet.)
Ehe der Verteidiger der klassischen Leistungsbeurteilung hier aufatmet und zur Tagesordnung übergehen möchte, gebe ich folgendes zu Bedenken. Dem Mitarbeiter geht es bei der Leistungsbeurteilung um Wertschätzung seiner Fähigkeiten. Auch eine nur zur Hälfte falsche Bewertung oder das Übersehen einer positiven Entwicklung können einen Mitarbeiter frustrieren. Wenn ein Mitarbeiter an einem bestimmten Punkt gearbeitet und sich verbessert hat und die Führungskraft diesen Punkt nicht anspricht, kann es schnell sein, dass der Mitarbeiter zu folgender Einstellung kommt: „Ich kann hier ja machen was ich will, es wird ohnehin nicht wahrgenommen.“
Beurteilungsfehler können in mehrere Richtungen negativ ausschlagen: Es kann sein, dass Punkte hervorgehoben werden, die bei genauerer Betrachtung nicht hervorgehoben hätten werden sollen. Es kann sein, dass Verhaltensweisen nicht angesprochen werden, die der Mitarbeiter gezeigt hat. Ohne dass die Führungskraft es will, besteht die Gefahr, dass der Mitarbeiter an der falschen Stelle gelobt oder kritisiert wird.
Wahrnehmungsverzerrungen sind im Alltag kein Problem, sondern die außerordentlich intelligente Abkürzung, um in der immer zu kurzen Zeit die Vielfalt der vorliegenden Probleme erfolgreich zu bewältigen. Wir würden den Wahrnehmungsverzerrungen nicht erliegen, wenn sie sich nicht im Alltag vielfach bewährt hätten. Diese Tatsache muss man sich vor Augen führen, wenn man sich bewusst macht, dass eine oft hilfreiche Wahrnehmungsverzerrung in bestimmten Situationen zu einer fatalen Fehlsteuerung führen kann.
Aus meiner Sicht ist jede Beurteilung eine solche Situation. Hier muss also der Autopilot unserer raschen Entscheidungen ausgeschaltet werden und durch bewusste und systematische Betrachtungen ersetzt werden. Hier genügt eine Schulung nicht. Nur ein Prozess, der den Fehlern so weit wie möglich entgegenwirkt, kann hier die Qualität der Entscheidungen verbessern.
Drei Punkte sind hierbei besonders wichtig:
Kann das alles umgesetzt werden ohne die Leistungsbeurteilung völlig zu überfrachten und unpraktisch zu machen? Es kann!